Thesen zum Begriff des Rittertums

Grundthese:

“Ritter” bezeichnet einerseits den Träger eines idealisierten ritterlichen Tugendbegriffs in allen ständischen Schichten, andererseits ein Mitglied des niederadligen Proletariats, das vom freien Hochadel zunächst durch die Schranke der persönlichen Unfreiheit, dann durch die der ehemals unfreien Herkunft scharf getrennt ist.
1. In der fränkischen Zeit war das Heeresaufgebot Sache der gesamten freien Bevölkerung.  
2. Bereits in karolingischer Zeit waren Hochadel und Geistliche nach ihrer Leistungsfähigkeit mit der Stellung von Mannschaften beauftragt und erfüllten diese Pflicht, indem sie aus ihrer Umgebung bzw. ihrer familia Krieger benannten. Vgl. das Kapitulare Ludwigs des Frommen 817
3. Schon in frühkarolingischer Zeit, sicher aber mit der zunehmendem äußeren Gefährdung und den inneren Wirren in der spätkarolingischen Zeit wird das Kriegshandwerk zum hochspezialisierten Beruf.  
4. Gleichzeitig sinkt die Zahl der zum Kriegsdienst zur Verfügung stehenden Freien, da sich immer mehr Bauern dem Dienst durch Unterstellung in ein Abhängigkeitsverhältnis entziehen.  
5. Mehr und mehr müssen Adel und geistliche Institutionen, aber auch das Königtum selbst auf Mitglieder der eigenen familia zurückgreifen.  
6. Diese Mitglieder der familia (Dienstleute, Ministeriale) sind prinzipiell unfrei und gehören auch leibrechtlich zum Hausstand ihres Herrn. Konrad von Lützelhard 1111 „de domo ducis domesticus“ (Diener vom Haus des Herzogs [von Zähringen]
7. Diese unfreien Dienstleute erfahren durch ihre Aufgaben im Kriegsdienst ihrer Herren eine Aufwertung und übernehmen zunehmend auch Verwaltungsaufgaben in deren Besitz. s. Meier / Meiger als Bestandteil des Namens (Meiger von Kürnberg/ Ortenaukreis)
8. Da die Reitertruppe mehr und mehr den Kern des Heeres bildete, wird „Ritter“ (< Reiterkrieger) zur Bezeichnung dieser Kriegsdienst leistenden unfreien Ministerialen.  
9. Die agrarische Struktur von Wirtschaft und Gesellschaft bringt es mit sich, dass auch deren wirtschaftliche Grundlage ein Landbesitz bildet, aus dessen Erträgen sie ihren Lebensunterhalt bestreiten und ihre besonderen Aufgaben finanzieren. Dieser Landbesitz wird jedoch nach „Dienstrecht“ vergeben und nicht nach Lehnsrecht und ist anfangs nicht erblich.  
10.Mit diesem Landbesitz sind auch von der Herrschaft delegierte Herrschaftsrechte mit deren Einkünften verknüpft, so dass die Grundlage für eine Benennung der Dienstleute nach ihrem “Dienstbezirk” besteht.  
11.Wohnort der Dienstleute war am Anfang der Hof der Herrn, später ein entsprechend ihren Aufgaben baulich herausgehobenes Haus im Dorf bzw. an dessen Rand. Die Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts machte daraus den „Ortsadel“ als Träger von Herrschaftsrechten im abgegrenzten Bezirk eines Orts. Wohnsitz des Niederadels ist bis in die Neuzeit hinein oft nur ein festes Haus, ein Steinhaus oder ein befestigtes Hofgut.
12.Mit den übertragenen Aufgaben wuchs den Ministerialen auch ein Lebensgefühl zu, das sich am Rang ihrer Herren orientierte. Je höher der Herr in der gesellschaftlichen Hierarchie stand, um so höher war die soziale Geltung des Ministerialen.  
13.Der reale Dienst des Ministerialen im Haus des Herrn lässt sich aus einer Reihe von Ämtern ablesen. So war der Truchsess für das Gepäck der Hofgesellschaft zuständig, der Kämmerer für die Vorratshaltung, der Marschalk für die Versorgung der Pferde und der Mundschenk für den Wein bei den Mahlzeiten. Diese Titel wurden im Lauf der Zeit zu Bestandteilen des Namens. Bekannte Beispiele sind die Familien der Kämmerer von Worms, genannt Dalberg, der Schenk von Stauffenberg, der Truchsess von Waldburg und der Marschall von Pappenheim. Es ist ein Zeichen sowohl des sozialen Anspruchs einer hochadligen Familie als auch seiner finanziellen Möglichkeiten, wenn sie sich solche Amtsträger hält. Während bei den Schenken von Burgheim (Stadt Lahr, Ortenaukreis) die Zuordnung zum Haushalt der Herzöge von Zähringen nur möglich erscheint, haben die benachbarten Herren von Geroldseck (Seelbach, Ortenaukreis) eigene Truchsessen.
14.Die Zuordnung von Dienstadel zu einem Herrn ist keine ausschließliche Zuordnung. Es kann durchaus zu Doppelministerialität und zum Wechsel des Dienstverhältnisses kommen. Tritt der Ministeriale aus eigener Kraft in ein anderes Herrschaftsverhältnis über, ist das entweder ein Zeichen für die Schwäche seiner alten Herrschaft oder für seine eigene Stärke. Wird er „abgegeben“, hat das meist politische Gründe im Verhältnis der beiden Herrschaften. Die ehemals zähringischen Ministerialen von Lützelhard (Seelbach, Ortenaukreis) begeben sich (unter nicht nachvollziehbaren Umständen) in der Mitte des 12. Jahrhunderts in den Dienst des Kaisers, der sie in Italien mit Verwaltungsaufgaben betraut. Als Markgrafen von Ancona erfahren sie so eine Erhöhung ihres sozialen Status, bis sie in der Mitte des 13. Jahrhunderts von der päpstlichen Kanzlei (wohl ebenfalls aus politischen Gründen) als „nobilis“ (edelfrei) bezeichnet werden.
15.Damit öffnete sich für die Ministerialen eine “Schere” zwischen ihrem Lebensgefühl und ihrem sozialen Anspruch einerseits, ihrer nach wie vor unfreien Stellung andererseits.  
16.Um diesen Konflikt zu verarbeiten, dessen Lösung nur eine soziale Gleichstellung mit dem freien Hochadel hätte bringen können, musste der „Dienst“ auf eine höherwertige ethische Grundlage gestellt und gewissermaßen idealisiert werden.  
17.Die Ministerialen entwickelten einerseits ein „Dienst-Ethos“, das ihnen den Verzicht auf die „eigentliche“ Belohnung (also die ständische Gleichstellung) vergoldete, entwickelten andererseits eine eigene Vorstellung von „adligem Leben“, die sie dem traditionellen Selbstbewusstsein des Hochadels entgegensetzen konnten. Sublimierter und in die literarische Sphäre übertragener Ausdruck dieses Dienst-Ethos ist die Minnelyrik mit dem Ausdruck der tiefen Verehrung gegenüber einer ranghöheren adligen Dame, deren Erfüllung in der Art eines „Erhört-werdens“ außerhalb jeder Diskussion stand. Die innige Verehrung der Jungfrau Maria in den Marienliedern kann gleichfalls als eine Übertragung dieses Ethos ins Religiöse gesehen werden.
18.Beidem wusste der Hochadel nichts zu antworten, außer mit einer Übernahme der „ritterlichen Tugenden“, der „ritterlichen“, das heißt höfischen Lebensweise und schließlich der Ausdrucksformen von Tugenden und Lebensweise in der Literatur. Die höfischen Romane wurden zwar von gebildeten Vertretern des Niederadels geschrieben, aber im Kreis des finanzkräftigen und sponsorfreudigen Hochadels konsumiert. Dieser erhielt damit ein Feld der Selbstdarstellung. Klassisches Beispiel für die Abhängigkeit des niederadligen Dichters vom hochadligen Geldgeber ist Walther von der Vogelweide. Von Konrad von Würzburg ist eine Reverenz an seinen hochadligen Gönner, den Straßburger Domkaniniker Berthold von Tiersberg-Geroldseck (um 1268) bekannt.
19.In der sozialen Wirklichkeit des „ministerialen Proletariats“ sind es die Aufgaben in Kriegs- und Hofdienst und in der Verwaltung, die die ständische Schranke zwischen der Freiheit des Hochadels und der Unfreiheit der Dienstleute aufbrechen.  
20.Aus den Dienstleuten wird auf diese Weise ein „Dienstadel“, der zwar den unmittelbaren sozialen Makel der persönlichen Unfreiheit ablegen kann, aber weiterhin unter dem Stigma der ehemals unfreien Herkunft steht. Das traditionelle Dienst-Ethos des Niederadels ist u.a. ausschlaggebend für die spätere Bereitschaft, im Fürstendienst zu arbeiten, während sich der Hochadel selbst ab und zu sehr schwer damit tat, seine Geldbedürfnisse durch die Aufnahme einer geregelten abhängigen Arbeit zu stillen.
21.Weiterhin bestehen bleibt die Zugehörigkeit des Niederadels zum Herrn, die Verpflichtung zu Kriegs- und Hofdienst und zur Teilnahme im „Rat“ des Herrn. Walther von Geroldseck teilt 1277 seine Herrschaft nach dem „Rat seiner Mannen und Freunde“
22.Als Wappen zur Kennzeichnung des Adels aufkommen und auch die Ministerialen wappenfähig werden, übernehmen sie das Wappen ihrer Herren durch Teilung, Drehung etc. als verändertes Wappenbild . Der pfälzische Löwe im Wappenbild der Herren von Eltz ist ein deutlicher Hinweis auf eine ehemalige, aber politisch nicht mehr wirksame Zuordnung der Burgherren zur Pfalzgrafschaft.
23.In diesen Zusammenhang gehört auch die Weitergabe des Namens der Herrschaft, besonders wenn die hochadlige Herrschaft ausstirbt und deren Name frei wird. In der Realität des 13./ 14. Jahrhunderts ist es ab und zu schwierig, die Namensgleichheit als Übernahme des Namens durch eine Ministerialenfamilie oder als Absinken der edelfreien Familie in den Niederadel zu entscheiden.
24.Das Stigma der ehemals unfreien Herkunft trennt für die nächsten Jahrhunderte weiterhin den „ursprünglichen“ freien Hochadel vom ehemals unfreien Niederadel. Eheverbindungen zwischen Mitgliedern beider Gruppen kommen einer sozialen Abstufung des hochadligen Teils gleich. Auf der anderen Seite dieser sozialen Schicht steht die Geschichte vom Meier Helmbrecht (Wernher der Gartenaere), der sich anmaßte, seine Rangerhöhung aus eigener Machtvollkommenheit zu vollziehen. Er ahmt adlige Lebensführung nach, wird aber, weil ihm die Legitimation dazu fehlt, von der Dorfgemeinschaft gerichtet. 1312 musste Kaiser Ludwig der Bayer die Standesminderung des Grafen Philipp von Sponheim aufheben, die durch die Ehe seines (hochadligen) Vaters mit einem „Dienstweib“ aus  der Familie der (ehemals ministerialen) Bolanden eingetreten war (Ritter, Krieger, Freiherr S. 24)
25.Mit dieser realen sozialen Aufwertung kann der Dienstadel auch Lehen empfangen; da er indessen am unteren Ende der Lehnsskala steht, kann er in den seltensten Fällen noch seinerseits Lehen ausgeben. Da auch freie Ackerbürger in Städten noch lehnsfähig waren, war die untere Grenze des Lehnswesens erst mit ihnen erreicht.
26.Der Niederadel behält weiterhin die Dienstbezeichnung „Ritter“ („miles“)  bei.  
27.Gleichzeitig wird die Bezeichnung „Ritter“ zu einem Ehrentitel für den, der gemäß dem idealisierten Tugendkatalog lebt (oder leben will). 1300 nennt sich der hochadlige Johannes von Geroldseck-Sulz „miles“ („Ritter“)
28.Die Dienstbezeichnung „Ritter“ muss vom Niederadel in ständiger weiterer Bewährung im Dienst des Herrn erworben und verteidigt werden.  
29.Hat sich ein Niederadliger solche Ehren erworben, kann er vom Herrn (der damit weiterhin das Recht hat, über Standeserhöhungen zu entscheiden), zum Ritter „geschlagen“ werden.  
30.Nicht mit dem Ritterschlag zu verwechseln ist die „Schwertleite“, die feierliche Umgürtung Heranwachsender mit dem Schwert. Sie war eher ein Initiationsritus innerhalb einer sozialen Schicht, der Jugendweihe vergleichbar, als die Begründung einer neuen ständischen Qualität. Die Schwertleite kann durchaus als realer Akt gesehen werden und den Zeitpunkt bezeichnen, an dem der Heranwachsende erstmals das schwere Schwert der Erwachsenen führt – sowohl von der körperlichen Kraft her als auch von einer gewissen Kampftechnik her. Vorher dürfte der Knappe mit entsprechend kleineren und leichter zu handhabenden Übungs- bzw. Kinderschwertern sein Handwerk gelernt haben. Bekannt ist die feierliche Schwertleite der beiden Söhne Friedrich Barbarossas auf dem Hoftag in Mainz 1181.
31.Niederadlige geben ihre Söhne als „Knappen” zu Herren zur Erziehung, so wie auch der Hochadel selbst seine Söhne zu höhergestellten Fürsten zur Erziehung gibt.  
32.Wer als Niederadliger die Ritterwürde nicht erreicht, bleibt „Edelknecht“ („armiger“). Beide Bezeichnungen verweisen auf ständische Qualität (Knecht) bzw. auf militärische Funktion (Bewaffneter). Ritter und Edelknecht können daher in derselben Familie nebeneinander herkommen: Ritter Siegfried von Lewenstein und sein Bruder Emercho, ein Edelknecht (Ritter, Krieger, Freiherr S. 78)
33.Mit der Zeit wird auch der „Ritter“-Titel – wie auch vorher bereits der von der Amts- zur Lehnsausstattung gewordene Besitz - im Niederadel erblich.  
34.Nachkommen eines zum Ritter geschlagenen Niederadligen gelten als „ritterbürtig“ und haben damit die Qualifikation zum weiteren sozialen Aufstieg, vor allem in der geistlichen Hierarchie. Sie können zum Abt oder – z.B. in Mainz und Trier – bis zum Erzbischof aufsteigen. Im Gegensatz zu den genannten Kapiteln verlangen die Domkapitel von Straßburg und Köln bis in die Neuzeit hinein für die Aufnahme den Nachweis der hochadligen Geburt.
35.Da der Niederadel nicht mit dem Besitz eines Herrn, sondern mit dessen Hofhaltung verbunden war, können einzelne Mitglieder oder ganze Gruppen des Ausfall einer Herrschaft zur Rangerhöhung, z.B. zur Reichsunmittelbarkeit, nutzen. Die Kraichgauer Ritterschaft, die möglicherweise mit den Saliern und ihren staufischen Erben und mit dem Herzogtum Schwaben verbunden war, erlangt nach dem Ausfall des Herzogtums Schwaben in der Mitte des 13. Jahrhunderts die Reichsunmittelbarkeit, ohne dadurch jedoch mit den Reichsministerialen auf eine Stufe gestellt zu werden.
36.Die Mittelalterromantik des 19. Jahrhunderts vermengt beide Begriffsebenen von Ritter und prägt das Bild von “stolzen Ritter” auf seiner prächtigen Ritterburg.  
siehe auch: Linkliste Rittertum


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